Nach(t)kritik
Pure Energie
Veranstaltung: Claire Huangci, Klavier: Bach, Mozart und Beethoven/LisztAuf ihrer großartigen CD mit den Toccaten von Johann Sebastian Bach, aufgenommen im August 2020, veröffentlicht im Herbst letzten Jahres, beginnt Claire Huangci mit der Busoni-Bearbeitung des berühmten BWV 565, also Präludium und Fuge in d-moll für Orgel und endet mit der Toccata in D-Dur. Sie stand bei ihrem Abend im Bosco am Beginn – wie einst auch bei der Einspielung der sieben Bach-Toccaten durch Glenn Gould. An den Kanadier, der fast das Gesamtwerk Bachs für Klavier legendär eingespielt hat, musste man schon in den ersten Sekunden des Konzerts denken. Denn die energiegeladene Verve und das Tempo, mit der die Pianistin sich in die halbe Minute der Introduktion von BWV 912 stürzte und die wirbelnde Energie, mit der sie auch danach die Töne in höchster Geschwindigkeit und Klarheit oft geradezu stanzte, die allgegenwärtige Kontrapunktik mit staunenswerter Klarheit durchleuchtete und glutvoll lebendig machte – das alles erinnerte an die herrliche Prägnanz und den vorwärtsdrängenden Elan Glenn Goulds.
Später bekam die hier so luftige Polyphonie aber auch tänzerischen Charme. Denn Huangcis Bach-Spiel – sie ließ die Toccata c-moll BWV 911 unmittelbar folgen und schuf so ein zwanzigminütiges, nahtlos sich verzahnendes Werk in sechs Sätzen – hat nichts kauzig Versponnenes wie manchmal bei Gould, sondern ist pure Energie. Das war auch in Mozarts großer a-Moll-Sonate KV 310 in jedem Takt zu erleben: Der Stolz und die Erhabenheit, mit der der einleitende, Maestoso überschriebene, Satz in seinen feierlichen Punktierungen anhob, zwang den Hörer, sich auf seinem Platz aufzurichten und auf der sprichwörtlichen Stuhlkante zu sitzen, um auch ja keine Nuance zu verpassen. Der stete Fluss des Ganzen, aber auch die harmonischen Verdichtungen, die Kontraste innerhalb eines kompakten Ganzen wurden bei Huangci zum Ereignis. Faszinierend, wie etwa eine kaum wahrnehmbare Tempo-Beschleunigung und ihre Zurücknahme eine Struktur betonte und zugleich die Oberfläche leuchten ließ.
Umso lyrisch versponnener dann das Andante cantabile con espressione in F-Dur. Auch hier bezauberte die Klarheit des Passagen-Spiels, das Vibrierende der Triller und die Fähigkeit, die Musik scheinbar nur „sprechen“ zu lassen. Dass das ebenso intensive wie genaue Arbeit voraussetzt, vergaß man bei der Überzeugungskraft ihres Spiels in jeder Phrase und in jedem Takt. Das düstere Perpetuum mobile des wieder in a-moll stehenden Presto samt seinem seltsam entrückten Mittelteil in A-Dur, war dann der intensive Höhepunkt der ersten Konzerthälfte.
Wie gerne hätte man eine Fortsetzung des Abends mit Bach und Mozart oder auch Haydn und Schubert gehört, war aber natürlich auch auf Franz Liszts Klavierfassung von Ludwig van Beethovens sechster Symphonie, seiner Pastorale gespannt, die im übrigen auch Glenn Gould 1968 für eine CBC-Übertragung spielte (und heute auf CD vorliegt). Dass Claire Huangci mit ihrer unglaublichen Energie den vierten Satz mit Gewitter und Sturm zum wirbelnden Zentrum des Ganzen machen würde, war klar. Aber was so idyllisch bezeichnet ist mit „Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“, „Szene am Bach“, „Lustiges Zusammensein auf dem Lande“ oder „Frohe, dankbare Gefühle nach dem Sturm“ als Finale – das hatte bei der 31-jährigen Amerikanerin, Tochter chinesischer Eltern, nichts mit Entspannung zu tun, sondern war noch in den leisen Stellen durchpulst von Beethovenschem Furor. Da scherte es Huangci auch nicht, als der Flügel bei allzu großer Attacke zu klirren begann oder ein dreifaches Forte im Bass klang, als wäre eine Saite gerissen.
Vielleicht hat es die Pianistin selbst gespürt, dass da die Gäule mit ihr ein paarmal durchgegangen sind und bedankte sich – in lupenreinem Deutsch angekündigt – „mit etwas Leichtem“. Das war der erste Satz aus Claude Debussys „Childrens Corner“, der „Doctor Gradus ad Parnassum“. Und da war er dann wieder, der wunderbare, reich und schön akzentuierte Fluss, der Claire Huangcis Spiel so berückend macht.
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