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Nach(t)kritik

Fr, 04.12.2015
20.00 Uhr

Reiche Ernte

Veranstaltung: 3. Gautinger Literaturwettbewerb: Preisverleihung

Sage und schreibe 331 Einsendungen konnte der 3.Gautinger Literatur-Wettbewerb verzeichnen, der heuer das Thema „heim(at)suchen.de“ vorgegeben hatte. Als es nun zur Auszeichnung der Preisträger in den Kategorien „Schüler und Jugend“, „Lyrik“ (erstmals) und „Erwachsene“ kam, berichteten die beiden Moderatorinnen Sabine Zaplin und Tanja Weber von dem beträchtlichen Aufwand, der diesmal hinter den Kulissen betrieben werden musste: Weil sämtliche eingereichten Texte (bis hin zu ganzen Gedichtsammlungen) von der Jury ohne Kenntnis der jeweiligen Autoren behandelt werden sollten, war das Organisationsteam des Literatur-Wettbewerbs unter Federführung von Werner Gruban u.a. damit beschäftigt, die Verfassernamen der 331 Beiträge zu schwärzen, einzutüten und zwecks Lektüre an die Jury-Mitglieder zu verschicken – eine Mammutaufgabe. Dass der Wettbewerbsjahrgang 2015 derart üppig ausgefallen war, sei auch daran gelegen, „dass wir die sozialen Medien genutzt haben“, so Tanja Weber. War der von Werner Gruban 2011 initiierte und seitdem alle zwei Jahre ausgeschriebene Preis bei seinem Debüt noch „aufs Würmtal begrenzt“ gewesen, so hatten sich diesmal dank Internet, Facebook & Co. sogar Teilnehmer aus Santiago de Chile gemeldet - „Heimat“ und die innere wie äußere Suche danach ist offenbar ein Stichwort, dass jederzeit und überall etwas auszulösen vermag. Hinzu gekommen war in diesem Jahr natürlich auch die aktuelle Flüchtlingsthematik: „Die Ereignisse haben uns regelrecht überrollt – in Form einer Welle von Einsendungen“, verriet Weber, Krimi-Autorin und selbst allererste Preisträgerin im Jahre 2011.
Der Abend der Preisvergabe offenbarte bei den diesmal in drei Kategorien Ausgezeichneten ein ganz erstaunliches Niveau. In der Sparte „Schüler und Jugend“ wurde von „BR“-Sprecher Peter Veith der Sieger-Text der erst 14-jährigen Piwko India-Wiborada aus Zittau in Sachsen vorgetragen, die nach eigenen Angaben schon bei etlichen Literatur-Wettbewerben mitgemischt hat: Die Autorin montierte aktuelle Zeitungs- und Blog-Beiträge zur Flüchtlings- und Integrationsthematik zu einem atmosphärisch äußerst dichten Ich-Monolog, der stellvertretend für die Perspektive (oder auch die Perspektivlosigkeit) der in Europa gestrandeten Menschen steht. Laudator Werner Gruban schreibt dazu: „Die Geschichte ist spätestens seit diesem Jahr eine der vielen nun deutschen Geschichten. Eine Geschichte, die ihren Anfang in einem Land nahm, in dem Zitronenbäume Trost spenden, die zum Symbol eines Sehnsuchtsortes geworden sind.“ India-Wiborodas Text nimmt in eindringlicher Weise auch die Position des allseits beäugten, von aufdringlichen Reportern bedrängten Asylbewerbers ein, der sich begafft wie ein exotisches Tier vorkommen muss und als Tribut an sein „Gastland“ erst mal jeglicher Privatheit und Individualität verlustig geht. Das Theaterforum gratulierte herzlich zu diesem Preis, verbunden mit der Bitte an die Autorin, „unbedingt dieses Talent weiter zu pflegen“. Man darf sagen, dass dieser subjektive Text über den Verlust von Heimat ohne Weiteres im Feuilleton einer großen Tageszeitung abgedruckt werden könnte – anstelle schlauer Analysen zur Flüchtlingsthematik.
Der Sonderpreis „Lyrik“ ging an den einzigen Mann unter den diesjährigen Preisträgern: Der gebürtige Afghane Faryar Massum wurde in Abwesenheit geehrt für sein sehr persönliches Langgedicht „Augenblick und Dauer“, das in dem Moment des Jahres 1978 einsetzt, da Massum als junger Mann in seiner Heimatstadt eine „Volksrevolution“ erleben muss, „von der das Volk nichts wusste“: Die Zeilen „Das Paradies meiner Jugend nahm eine Ende“ sind Ausgangspunkt eines bis heute andauernden Gefühls der Entwurzelung – Laudator Gerd Holzheimer, Schriftsteller und u.a. Herausgeber der Zeitschrift „Literatur in Bayern“, schreibt dazu Grundsätzliches: „Mit der Lyrik hat es etwas Vertracktes an und auf sich. Sie verführt so manche zu dem Glauben, sie könnten das auch. Allerdings ist ein Gedicht, wie schon der Name sagt, das dichteste Gebilde der Dichtung – und von daher auch das schwierigste.“ In „Augenblick und Dauer“ suche der Verfasser erst gar nicht nach Metaphern und anderen Stilformen, so Holzheimer, „eine Wirklichkeit sucht ihn, sucht ihn heim und entwickelt scheinbar ganz aus sich heraus ihre Sprache, eine lakonische, beinahe spröde Sprache, die uns umso eindringlicher das Geschehen vor Augen treten lässt.“
Begleitet wurden die Text-Lesungen, Laudationes und Ehrungen von Auguste Laar am Mischpult: Assoziative Musik- und Sprech-Einspielungen zum Thema „Heimat“, von Hans Söllner bis zu japanischem Chorgesang, von 50er-Jahre-Vinyl-Schlagern bis zu Heinrich Heine – ein stimmungsmäßig recht gelungen arrangierter Abend, optisch garniert von der Bildprojektion alter Kaugummi-Automaten an der grünen Hauswand des Gautinger Jugendzentrums (Verortung ohne Gewähr!).
Die drei Preisträgerinnen der Hauptkategorie hatten die Jury (Luitgard Kirchheim, Marc Schürhoff, Tanja Weber, Sabine Zaplin, Werber Gruban und Gerd Holzheimer) ebenfalls schwer beeindruckt: Die Gewinnerin Christine Zureich aus Konstanz nimmt in der Kurz-Erzählung „Nahlandig“ den Blickwinkel eines jungen Mädchens ein, das in den 50er-Jahren mit ihren einst in die USA emigrierten Eltern nach Deutschland und damit in ein für sie fremdes Land kommt. „Es ist kein autobiografischer Text,“ so die 42-jährige, doch in ihrer Familie habe es eine solche Rückkehrer-Geschichte gegeben. Laudatorin Luitgard Kirchheim würdigte die diesjährige Literaturpreisträgerin wie folgt: „Erzählt wird aus der Perspektive eines etwa achtjährigen Mädchens und seiner Schwester. In zahllosen Details, die in ihrer Kindheit grandios hingetupft sind, erfährt der Leser, wie den Kindern die Unterschiede der beiden Heimaten deutlich werden. (…) Nur durch wenige Wörter werden Situationen angerissen, die die Vorstellungswelt des Lesers in Gang setzen und gezielt durch Auslassungen historische und kulturelle Gegebenheiten bezeichnen.“
Der 1.Preis wurde mit einer Stele der Gautinger Künstlerin Rosemarie Zacher gewürdigt und war dotiert mit 500 Euro. Der 2.Preis war mit 300 Euro dotiert, alle weiteren mit jeweils 250 Euro.
Den 2.Preis erkannte die Jury der aus Untermenzing kommenden Autorin Verena Richter zu. Richter hatte – irritierend sogar für den Laudator Marc Schürhoff – sogar den Plural des „Riesenpopanz Heimat“ (Schürhoff) verwendet: In einer dreieinhalb Seiten langen, humorvoll-originellen Skizze, vom Laudator als „Dramolett“ eingeordnet, „stellt sie spielerisch den Verlust des Heimatgefühls in den Kontext unserer durch Gewinnmaximierung getriebenen Zeit.“ Verena Richter (34) nahm´s ebenfalls mit Humor, dass die Jury sie zur „Vera“ verkürzt hatte – hier hielt sich der (Silben-)Verlust ja auch in Grenzen: der verlorenen Heimat in ihrem Text spürt sie passender Weise in einem Fundbüro nach....
Der 3.Preis („Heim@preis“) wurde der Gautingerin Roswitha Zirngibl (47) für ein Langgedicht zugesprochen, in welchem Prosa- und Lyrik-Passagen intensiv und virtuos montiert sind – Auszug: „In meinen Armen liegt seit Jahren ein Kind. Das Kind bin ich. Es hat sich in den Schlaf geweint und atmet sich / Augensalz an den Wangen / in einen noch tieferen Schlaf hinein. Im Blindwinkel der Nachbarn. Im Blickwinkel der Straßen. Die Stadt ist ein Klangschiff. Ruht niemals. Suche Dich. An jedem Ort.“ Laudator Werner Gruban und Jurorin Sabine Zaplin priesen die spektakuläre Sprachverdichtung dieses Textes: „...in dieser Melange aus unterschiedlichsten Gefühlen und Befindlichkeiten wird die Suche nach dem EINEN Ort spürbar.“ Zaplin erinnerte gerade anhand dieses Beispiels voller Klangfarben daran, „dass man Literatur eben auch hören muss“. Vorgetragen vom wunderbaren Peter Veit, konnte man tatsächlich mit geschlossenen Augen lauschen und diese Sprache auf sich wirken lassen. Der Gautinger Literatur-Wettbewerb, er „verdient es, überregionale Beachtung zu finden“, sagte Sabine Zaplin mit Blick auf die reiche Ernte des Jahrgangs 2015 völlig zu Recht. Hier bahnt sich offenbar Größeres an.

Thomas Lochte, 05.12.2015


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Fr, 04.12.2015 | © Werner Gruban