Nach(t)kritik
Spuren der Vergangenheit
Veranstaltung: Pudding Théâtre: Soupir.sSie tauchen auf aus der Dunkelheit, in dunklen Mänteln mit leuchtenden Streifen darauf, ein bisschen wie Sterne. Fast scheinen sie zu schweben, wenn sie durch die Straße ziehen und dabei die Geschichten aufspüren, die sich in den Bäumen verbergen oder unter dem Asphalt. Die Reveurs, die Träumenden, greifen die Spuren auf, die sich seit Jahrzehnten hier im Asphalt verbergen. Und so entdecken sie die Geschichte von Marco und Mona, die von deren Kindern und Enkeln schon längst geahnt wurde. Wie im Traum.
Wie ein Traum ist „Soupir.s“, die aktuelle Produktion der französischen Straßentheater-Compagnie Pudding Theatre aus dem französischen Jura, die dem faszinnierten Gautinger Publikum mit ihrem Gastspiel an diesem ersten Ferienwochenende die Deutschland-Premiere ihres Stücks bescherten. „Soupir.s“ ist eine Geschichte über die Suche nach den eigenen Wurzeln, über die Hintergründe von Identität und Individuum und darüber, wie weit die durch einen Krieg entstehendenVerletzungen und Traumata in die Gegenwart hineinreichen.
Da entdeckt ein friedenstaumelnder Soldat auf einer Parkbank ein in ein Brautkleid gewickeltes Baby, ein kleines Mädchen, das er Mona nennt und als seine Tochter aufzieht. Im Hintergrund schweben mehrere Brautkleider wie Wolken über die Grubmühlerfeldstraße und verschwinden wieder, während Mona zum Teenager wird. Sie erkrankt an Kinderlähmung und wird fortan durch ihr Leben hinken. Wird Mutter einer Tochter, wird Großmutter, wird nie mehr fragen, wer wohl ihre wirklichen Eltern waren. Ihre Tochter, Lucie, wird dagegen eine Obsession entwickeln und nachforschen, wo die beiden Menschen auf dem Foto sind, das Mona als einziges geblieben ist von ihrer eigentlichen Herkunft.
Währenddessen wächst auf einem parallelen Lebensweg, in der Schlossstraße, Marco heran. Lebt sein Leben, geht zum Zirkus, verliert bei einem Unfall einen Arm. Auch er lebt sein Leben, ohne je nach seiner Herkunft zu fragen. Auch ihn hat der Krieg schon als Baby in eine andere Familie gespült. Auch er wird Vater, wird Großvater. Und seine Enkelin, Sam, will herausfinden, wo ihre Wurzeln liegen. Auf einem Flohmarkt begegnen sich Mona und Marco zufällig, lernen sich sogar über die Kinder kennen, die sich auf einem Feriencamp begegnet sind. Doch sie ahnen noch immer nicht, wieviel sie tatsächlich verbindet: Mona und Marco sind Zwillinge, wurden als Babies während der Flucht ihrer Eltern in den letzten Kriegsmonaten getrennt. Ihre Lebenswege kreuzen sich scheinbar zufällig, am Ende der Straße Am Würmufer. Und schon treibt das Leben sie wieder auseinander. Erst Lucie und Sam gelingt es, die Geschichte zu heben.
In traumhaft poetischen Bildern gelingt es dem Ensemble des Pudding Theatre, das Publikum auf die beiden parallel verlaufenden Lebenswege mitzunehmen und immer wieder neu zum Staunen zu bringen. Ein Rollstuhl mit Dieselmotor und Bengalischem Feuer wird zum Bild für einen fatalen Unfall. Maskengestalten, die unter fremden Gesängen tanzen, lassen den Schauplatz spürbar zur Fremde werden. Der Konfettiregen über einer Hochzeitsgesellschaft verwandelt sich durch Lichtwechsel in das Schneegestöber über dem Flüchtlingstreck. Und zwischen all den Szenen, mal aus dem Publikum heraus, mal aus der Ferne sich nähernd, greifen die Reveurs die Fäden dieser Geschichte auf und tragen sie zusammen, gemeinsam mit dem Publikum, das sie sanft durch den Abend geleiten.
So haben die Gautingerinnen und Gautinger ihren Ort noch nie erlebt: als Bühne, als Schauplatz, als Kulisse und zugleich als Topos für ein Phänomen, das überall besteht: für die Spuren, die Weltgeschichte in den Familien hinterlässt. Hoffentlich erleben wir das Pudding Theatre hier bald wieder.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.