Nach(t)kritik
Tanz auf dem Seil
Veranstaltung: Metropoltheater München: "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" von Joël Pommerat„Was Prügel sind, das weiß man schon!“, schreibt Heinrich Heine im Dritten Teil seiner „Reisebilder“, „was aber die Liebe ist, das hat noch keiner herausgebracht.“ Heine beruft sich dann auf Naturphilosophen und deren elektrophysikalische Erklärungsversuche. Dabei weiß er als Dichter nur allzu genau, dass dem Phänomen der Liebe nur mit der Literatur auf die Spur zu kommen ist. So gibt es seit Jahrhunderten hier die überzeugendsten Resultate. Eines aus neuerer Zeit ist das Theaterstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joel Pommerat, mit dem das Metropoltheater bei seinem Gastspiel im bosco wieder einmal aufs Beste überzeugen konnte. Regisseur Jochen Schölch und sein Ensemble - im Einzelnen wie als agierende und agile Gemeinschaft überzeugend Butz Buse, Maja Amme (die für Vanessa Eckart einsprang, Paul Kaiser (der nach einem Bühnenunfall trotz gebrochener Schulter mit Armschlinge spielte), Nikola Norgauer, Hubert Schedlbauer, Thomas Schrimm Dascha von Waberer, Eli Wasserscheid und Lucca Züchner in insgesamt 51 Rollen) - spürten in zwanzig kurzen bis sehr kurzen Szenen dem nach, was sich zwischen Menschen ereignet, wenn ihnen die Liebe begegnet oder abhanden kommt.
Da ist die Frau, die nach vielen trostlosen Ehejahren die Scheidung will, weil die Liebe von Anfang an gefehlt hat. Da ist das kinderlose Paar, das einen Babysitter engagiert und diesen in ihr seltsames Spiel um erfundene Kinder einbezieht. Da ist die Braut, die kurz vor der Trauung erfährt, dass ihr Bräutigam mit all ihren Schwestern etwas hatte. Und da ist der Mann, der um die einst erlebte Liebe seines Lebens kämpft, während dieser nach und nach jede Erinnerung abhanden kommt. „Es war wunderschön“, beschreibt er ihr das gemeinsam Erlebte, „es war, als wenn Nordkorea und Südkorea ihre Grenzen öffnen und sich wiedervereinigen würden.“
Auf der vollkommen leeren Bühne, nur mit sehr wenigen Requisiten wie ein paar großen Sitzkissen oder einem Federbett, durchforsten die fünf Schauspielerinnen und vier Schauspieler des Metropol-Ensembles die verschiedenen Spielarten der Liebe. Immer gehen sie dabei bis an die Grenze, jene zwischen Realismus und Absurdität, jene zwischen Komödie und Tragödie oder jene zwischen dem Vorstellbaren und dem Reich des Phantastischen - und manchmal gehen sie weit über diese Grenzen hinaus. Dann wird es extrem, sowohl hinsichtlich der Gefühlsausbrüche als auch der spielerischen Mittel. Immer wieder wird jemand geschlagen, bedrängt, getriezt. Das kann durchaus irritieren, und das soll es gewiss auch. Dennoch gerät nie eine der Figuren in Gefahr, zur Parodie zu werden oder gar zum Klischee. Denn sie wandeln stets auf dem dünnen Seil des Gefühls, immer im Bewusstsein, abstürzen zu können, und das ohne Netz oder doppelten Boden. Doch dieses Seil trägt und so führt der schmale Pfad zu einem Ziel, wie auch immer dieses gestaltet sein mag.
Joel Pommerat, einer der zur Zeit meistgespielten Dramatiker Frankreichs, entwickelt seine Stücke gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern seiner Compagnie während der Proben. Dieses Improvisierte, beinahe Tänzerische zeichnet die Grundstimmung der „Wiedervereinigung der beiden Koreas“ aus. Schon der Titel deutet auch das Utopische an, was sich darin verbirgt. Und so kann das wunderschöne Schlussbild, in dem alle Schauspielerinnen und Schauspieler, teils auf Rollerblades, wie bei einem Reigen um die in der Mitte selbstversunken mit sich allein Tanzende kreisen, als eine solche Utopie gelesen werden: der oder die Einzelne ist zwar zunächst auf sich selbst zurückgeworfen, wird aber nie aus der Gemeinschaft herausfallen, die ihn umkreist und hält. Vielleicht ist das ein Bild für das so unerklärliche Phänomen der Liebe.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.