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Nach(t)kritik

Di, 08.03.2022
19.00 Uhr

Tiefer schauen

Veranstaltung: Michael Nguyen: By the Roadside

Nichts wirkt heilender in der gegenwärtig für so viel Schmerz und Angst sorgenden Situation in der Ukraine als der Anblick von klaren Strukturen. Michael Nguyens Fotografien, kuratiert für die am Dienstagabend im bosco eröffneten Ausstellung „By the Roadside“, entstanden während des ersten Lockdowns in der Corona-Pandemie, jener anderen noch immer gegenwärtigen Krise. Der Fotograf, der für seine Arbeit im vergangenen Jahr mit dem Günther-Klinge-Kulturpreis der Gemeinde Gauting ausgezeichnet wurde, hat im Frühjahr 2020 ausgedehnte Spaziergänge durch seinen Wohnort Gauting wie durch andere Gegenden in Bayern, dem benachbarten Österreich und auch Italien unternommen. Dabei stieß er auf urbane Orte, die auf den ersten Blick von der Abwesenheit der üblicherweise hier in sehr großer Zahl und dem vom Alltag geprägten Tempo sich bewegenden Menschen erzählten. Ein Einkaufszentrum in München. Eine Ansammlung von Containern. Der Großparkplatz vor der Allianzarena. Alle menschenleer. Auf den zweiten Blick aber strahlen all die großformatigen Detailaufnahmen eine tiefgründige Würde aus, ganz so, als wären die Orte selber die Akteure im Zeitgeschehen. Als würden sie in diesem eingefangenen Moment erst einmal ganz tief einatmen, bis in den Bauch der Städte hinein.

Da ist das Bild, das eine rote Sitzbank in der Allianzarena zeigt, zur Linken begrenzt von dem weißen Infomast mit kugeliger Spitze. Ein fast unwirklich scheinender blauer Himmel grenzt die rote Sitzbank nach oben ab. Klare Linien, intensive Farben bieten dem Auge Ruhepunkte und lassen tief ins Innere schauen.

Da zeigt ein Bild die Fassade des Kinderhauses Nürnberg: rote und blaue Rechtecke, über die sich eine weiß-schwarze Raute schiebt und, ebenfalls rautenförmig, Teile der roten und blauen Rechtecke ausspart. Man denkt an Kandinsky, an Mondrian. Und wieder schaffen Formen, Farbe, Struktur Haltepunkte für ein Ausruhen im Schauen, laden ein zur Meditation.

Michael Nguyens Fotografien richten den Blick auf das zur Essenz reduzierte Detail in der Architektur unserer Städte, überhaupt unserer Lebensräume. Durch das Fokussieren auf den gewählten Ausschnitt wird der Blick ausgerichtet, ohne dass das gewählte Detail in seiner Bedeutung dadurch überhöht würde. Die Deutung und damit das Ermitteln der Be-Deutung wird dem Betrachter überlassen, der sich dem intensiven Schauen gar nicht entziehen kann.

Besonders die Gautinger Besucherinnen und Besucher dürfen ihren Lebensraum einmal ganz anders, en detail erleben: am hinteren Eingang des bosco sind auf einem Bildschirm unter dem Stichwort „Gauting im Fenster“ eine Auswahl an Gauting-Fotografien Nguyens zu sehen: das Bahnhofsgebäude, eine Schaufensterpuppe an der Würm, verschiedene Kaugummi-Automaten in den Ortsteilen. Wer einfach mal im Vorbeigehen den Blick schärfen mag auf das Besondere im Allgegenwärtigen, kann dies mit „Gauting im Fenster“ erleben, ohne ins Kulturhaus hineinzugehen.

Wer aber hineingeht, sieht noch viel mehr. Das Bild vom verlassenen Sommerbad beispielsweise, wo sich durch Spiegelungen auf der Wasseroberfläche die Perspektiven ins Uneindeutige verschieben. „Wie der Rest von uns ist auch dieses Sommerbad bis zu den wärmeren Monaten auf Eis gelegt“, notiert Nguyen dazu, „Die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche, die kahlen Bäume in der Nähe und das treibende Laub lassen es ahnen, dass das Freibad, wie wir, auf bessere Tage wartet.“

Sabine Zaplin, 09.03.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Di, 08.03.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.