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Nach(t)kritik

Mi, 30.09.2015
20.00 Uhr

Um den Kosmos kommt keiner herum

Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Im Auge eines Falterflügels - Die kosmische Kunstkammer
Wie eins zum anderen gehört und was die Welt im Innersten zusammenhält, das sollten die Zuhörer am Mittwochabend bei einem Rundgang durch die erste von insgesamt fünf literarischen „Kunstkammern“ erfahren, die Gerd Holzheimer in diesem Herbst im bosco öffnen wird. 

Kunst- und Wunderkammern entstanden in Europa ab dem 15. Jahrhundert, als vornehmlich die fürstlichen Höfe von der Sammelleidenschaft ergriffen wurden. Gesammelt wurde nicht nur Kunst, sondern alles, was der Zeit wesentlich erschien und deshalb Interesse weckte: Gemälde, Kupferstiche und Plastiken gehörten natürlich dazu, ebenso aber Bücher aller Wissensgebiete, Münzen und Medaillen, astronomische Geräte, Globen und Atlanten, Skelette, Fossilien und Mineralien, technisch ausgefeilte Drechselarbeiten aus Elfenbein, kunstvoll gravierte Straußeneier, kostbar gefasste Kokosnüsse und noch vieles mehr. Ihre Vielfalt spiegelte das Bestreben wider, in der Kunstkammer das Universum „im Kleinen“ festzuhalten. Entscheidenden Anstoß für die Sammlungen gaben die großen Entdeckungsfahrten, insbesondere die epochale Begegnung mit der radikalen Andersartigkeit Amerikas. Der große Sammler und frühe Museologe Johann Daniel Major strebte nach der „Erkäntnüß des Apfel-runden Kreises der gantzen Welt“. So waren denn auch die Kunstkammern der Renaissance die Vorläufer der Naturkundemuseen, die im 19. Jahrhundert entstanden.

„Kosmos“, so überschrieb Alexander von Humboldt das Werk seines Lebens, in dem er das Wissen seiner Zeit zusammentrug: In diesem „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ wollte er die Welt „en gros und en detail“ versammeln. Die erste von Holzheimers Wunderkammern also sollte eine „kosmische“ sein: Der literarische Rundgang begann mit Goethe, führte zu Ovid und dann wieder zu Goethe und später noch einmal zu Goethe. Die staunenden Zuhörer reisten mit Carl von Linné nach Lappland, fuhren mit Darwin um die Welt, wanderten mit Adalbert Stifter, suchten mit Jean Henri Fabre in seinem südfranzösischen Garten nach Grillen und Zikaden, sie gingen mit Ernst Jünger auf „Subtile Jagden“, sie marschierten mit Carl Friedrich von Weizsäcker zu Fuß hinüber zum Ammersee und wieder zurück.

Sprecher Axel Wostry lieh jedem der Autoren seine Stimme, auf feine und unprätentiöse Art, ganz so wie es sich gehört. Und Holzheimer zog zu allem und jedem ein Buch hervor, es war eine veritable Wunderkammer, die er unter seinem Tisch verborgen hatte. Mit signierten Erstausgaben waren die großen Schauenden und Forschenden sogar physisch präsent im Hier und Jetzt, Goethe selbst hatte einen Auftritt als Handpuppe. Außerdem sorgten Steine und Versteinerungen, Pflanzen und Pflanzenbestimmungsbücher, anaologe und digitale Vogelpfeiferl und Vogelbestimmungsbücher für die richtige Ausrüstung und das Anschauungsmaterial auf diesem wundersam kosmischen Welterkundungsgang. Goethes „anschauendes Denken“, die Nähe, ja, der unbedingte Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Poesie – das war die „Erkäntnüß“ in dieser unterhaltsamen Lehrstunde. Um es mit Ernst Jünger zu sagen: „Im Auge eines Falterflügels ist nichts Geringeres verborgen als im Golf von Neapel oder in der Bucht von Rio, von denen wir auch nicht mehr als die Oberfläche sehen. Es fragt sich, was wir herausholen. Das kann nur aus der eigenen Tiefe geschehen, dort ruht das Gegengewicht.“ Oder mit Gerd Holzheimer: „Um den Kosmos kommt keiner herum.“
Katja Sebald, 01.10.2015


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.