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Nach(t)kritik

Fr, 28.10.2022
20.00 Uhr

Vom Gestalten der Erinnerungen

Veranstaltung: Theater Freiburg: "Anne-Marie die Schönheit" von Yasmina Reza

Bedächtig geht, schlurft, schleicht die alte Frau um die Vitrinen ihrer Erinnerungen. Mal nimmt sie hier einen Gegenstand heraus, schluckt dort ein paar bittere Pillen hinunter oder dreht ein gerahmtes Foto um. Dabei summt sie immer wieder, als müsse sie die Worte, mit denen sie ihre Erinnerungen beschreiben, beschwören will, erst auf der Zunge abschmecken und dann vorsichtig über die Lippen bringen. Die alte Frau war Schauspielerin. Ihr Leben lang stand sie auf der Bühne - nicht auf den großen Bühnen, es war eine kleine Truppe. „Auf der Bühne war ich manchmal Anne-Marie, die Schönheit“, kommt es ihr über die Lippen. Und dabei steht sie kerzengerade da und schaut der imaginierten Journalistin, der sie ihr Leben erzählt, direkt in die Augen.

Robert Hunger-Bühler ist „Anne-Marie die Schönheit“ von Yasmina Reza. Und beim Zusehen versteht man sofort, warum die französische Erfolgsautorin den Schweizer Schauspieler für diese Rolle haben wollte. Hunger-Bühler spielt mit wenigen, klaren Akzenten diese Frau, die auf dem schmalen Grat zwischen Vorstellung und Wirklichkeit über ihr Leben balanciert. Und er spielt gleichzeitig den Schauspieler, der diese Rolle übernimmt, ohne dabei die eigene männliche Identität zu verleugnen. So tritt Anne-Marie in ihrer ganzen Tragik zutage: als ein Mensch, der vom Spielen anderer Identitäten lebt und dabei Fertigkeiten entwickelt hat, das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit zu verbergen.

Schon immer ging es in Anne-Maries Leben um geborgte Identität. Als kleines Mädchen schneidet sie aus den Illustrierten der Mutter Fotos von Brigitte Bardot aus und klebt sie in ein Album, als wäre es ihr Leben. Später erträgt sie geduldig die Bemerkungen der Mutter, sie sei doch viel zu hässlich für die Bühne. Da hat sie sich schon längst aus der französischen Provinz herausgeträumt, hat sich im Zentrum jener Schauspieltruppe gesehen, die regelmäßig den Ort besuchte und deren Mitglieder stolz und majestätisch groß über den piefigen Marktplatz stolzierten. Ähnlich stolz war dann später die Kollegin Giselle, die immer die besseren Rollen bekam und die attraktiveren Männer und die irgendwann Karriere beim Film machte, während Anne-Maries Leben stagnierte im Staub der kleinen, unbedeutenden Bühne.

Und wie schnell so ein Leben vorüberrast, und wie brutal der Lauf der Zeit die eigenen Pläne überholt. Anne-Marie ist alt geworden, ohne jemals aus der Provinz herausgefunden zu haben. Wie schwer dieses Alter auf ihr lastet und wie verloren sie zwischen ihren Wünschen und Verletzungen umherirrt, das spielt Robert Hunger-Bühler in der sensiblen Inszenierung von Peter Carp auf eine Weise, die unter die Haut geht. Mal zwängt er sich durch eine viel zu eng zwischen Vitrinenwänden gebaute Tür, um dann beinahe befreit hinter der Vitrine wieder hervorzutreten, Zwei-, drei Mal nimmt er seitlich an einem Schminktisch Platz, um sehr bedächtig einen Lippenstift aufzutragen oder eine Perlenkette anzulegen. Es hat etwas im wahrsten Sinn des Wortes Un-Beholfenes, wenn diese Anne-Marie zwischen den Fragmenten ihres Lebens nach Spuren sucht, während gleichzeitig die Worte aus ihr herausbrechen, mal leise und zurückhaltend, dann wieder mit großer Verve. Ein ungeordneter Erinnerungsschwall, der im Ausgesprochenwerden gestaltet wird - und der sich manchmal nicht mehr einfangen lässt und dann ungestaltet, roh bleibt. Am Ende bleibt die verstörende Erkenntnis, dass die Gestaltungsspielräume eines Lebens so eng sind wie die zu schmal eingefasste Tür - und dass sich nur wenige Fluchtspalten auftun. Die letzte ist vermutlich der Tod.

Sabine Zaplin, 29.10.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Fr, 28.10.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.