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Nach(t)kritik

Mi, 23.02.2022
20.00 Uhr

Vom Ölbaum zum Riesenrad - neue Blickwinkel

Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Mir ham! (Teil 3)

Perspektiven des Menschseins auszuloten, scheint im Angesicht gegenwärtiger Bedrohungen dringender denn je. Genau das war das Ziel des dritten Abends der literarischen Reihe  „MIR HAM!“, in der sich Gerd Holzheimer mit den Möglichkeiten des Lebens beschäftigt. Der Titel, ein die Möglichkeit des Gelingens für sich ins Auge fassender Ruf aus dem Eisstock-Sport, wird nun im dritten Teil so richtig greif- und begreifbar. In einer spielerischen Assoziationskette aus literarischen Belegen für das, was man landläufig vielleicht als Ziel bezeichnen möchte, folgen Holzheimer und die Schauspielerin Judith Toth verschiedenen Perspektiven auf Leitbilder, Lebensziele, Lesarten der Welt.

Wie ein eigenes Leitbild steht am Anfang ein Auszug aus der mittelhochdeutschen Versnovelle „Helmbrecht“, in der sich tatsächlich eine kleine Passage über jenen Zeitvertreib findet, der heute unter dem Namen Eisstockschießen bekannt ist. Dass es bei diesem Vergnügen darum geht, Nähe zu erlangen durch die Annäherung an ein bestimmtes Ziel, ist Inhalt der Verse und des ganzen Abends.

Eines dieser Ziele war im 18. und 19. Jahrhundert das klassische Griechenland, dem „mit der Seele suchend“ man sich annähern wollte. Dichter wie Friedrich Hölderlin, der selber niemals dort gewesen ist, war die griechische Götterwelt eine Heimat, die ihn herausforderte und deren Nähe er über das Dichten suchte. Ludwig I., ein über Seele und Materie das Land der Griechen stets Suchender, hat dies über das Schaffen einer greifbaren Nähe in Form von Architektur in seiner Residenzstadt zu erreichen versucht - heute würde man das vermutlich von kultureller Aneignung sprechen. Doch ist der Anblick der Bavaria über der Theresienwiese, eine bayerische Pallas Athena, gerade zu Nicht-Wiesnzeiten, eine Einladung zum Innehalten, zum Bestimmen des eigenen Standortes? Und wie außergewöhnlich gerade im Sommer der Anblick des alten Riesenrads vor der Glyptothek gewesen sei, daran erinnert sich Gerd Holzheimer lächelnd und verweist auf diesen pandemiebedingten Perspektivenwechsel, der aus der Not des verschobenen Volksfestes heraus die Stadt neu definierte.

Und weitere Perspektivenwechsel ergaben sich aus den literarischen Momenten dieses Abends: von Homer und der Rückkehr des Odysseus zum heimischen Ölbaum über besagte Griechenland-Gesänge hin zum Ölbaum im Alten Testament und von dort zu einer Schöpfungsgeschichte aus der Perspektive eines Fussball-Begeisterten bis hin zu Dostojewskis Gotteszweifeln und von dort zur Insektopädie als neue Perspektive der Nähe zu den kleinsten Mitbewohnern dieses Planeten.

Im amüsierten Plauderton warfen sich Judith Toth und Gerd Holzheimer die Bälle zu, gerade so, als entstünde die Auswahl der Literatur gerade in diesem Augenblick - fast so, als wäre es ein Eisstockspiel quer durch ein Bücherregal, aus dem scheinbar zufällig immer die am nächsten liegenden Werke fallen. Gern hört man der sehr empathisch, mit großer Leichtigkeit in die Texte eintauchenden Judith Toth und dem den Gesprächsfaden immer wieder aufnehmenden Gerd Holzheimer zu und fühlt sich anschließend mehr als eingeladen, auf die Herausforderungen der Gegenwart mit einem kräftigen „MIR HAM!“ zu antworten. Perspektiven entstehen in der Bewegung.

Sabine Zaplin, 24.02.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Mi, 23.02.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.