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Nach(t)kritik

Mi, 26.09.2018
20.00 Uhr

Vom Sessel aus

Veranstaltung: Gerd Holzheimer "Auf geht´s: Zu neuen Ufern!" (1): Der Herr Meyer aus der Kaiserstraß

Das gab es so auch noch nicht in der bar rosso: dass das ganze gut gebildete und wohl auch gut verdienende gediegene bosco-Publikum miteinander aus vollen Halse „Die Internationale“ anstimmen würde - und das gleich zweimal, vor der Pause und dann als Zugabe nach dem Auftakt von Gerd Holzheimers Literaturreihe noch einmal. Doch wen wundert´s, schließlich hat Gauting seinen eigenen Anteil an der Oktoberrevolution und dem Aufbruch der „Verdammten dieser Erde“, und zwar in Form eines Sessels. Dieser stand während des Abends, der sich unter dem Titel „Der Herr Meyer aus der Kaiserstrass: Lenin in München“ dem ersten von mehreren politischen Aufbrüchen widmete, vorn am Bühnenrand und trug keinen Geringeren als den Herrn Meyer alias Vladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin selber, in Gestalt eines großformatigen gerahmten Portraits. Mit dem Sessel hat es folgende Bewandtnis: vor vielen vielen Jahren lebte in einem „Jagahäusl“ genannten Häuschen in Stockdorf ein Fräulein Schön, das zuvor einmal gewisse Verbindungen zu jener Druckerei pflegte, in der Lenin während seiner Zeit in München - wohin er aus dem zaristischen Russland geflohen war - einige Pamphlete und auch die Zeitschrift „Iskra“ drucken ließ. Man kam sich näher, und so ergab es sich, dass Lenin alias Herr Meyer das Fräulein Schön besuchte und immer wieder auf diesem Sessel Platz nahm, der später mit nach Stockdorf ins Jagahäusl zog. Ein Hauch von Lenin im Gautinger bosco!

Wie man sich Lenins Zeit in München, vor allem im brodelnden, neuen Ufern zustrebenden Schwabing, vorzustellen hatte, davon zeichnete Holzheimer zusammen mit der Sprecherin Clara Holzheimer und den aus dem Off urplötzlich noch hereinschneienden Musikerinnen Rose Biller-Shah und Birgit Otter ein höchst farbiges Bild. Natürlich betrachtete Lenin, revolutionär schon einige Schritte weiter als die Vorbereiter der Räterepublik, die Gehversuche der bayerischen Genossen zunächst mit Skepsis und lieferte manchen Ratschlag. Doch recht bald schon schien die bayerische Lebensart auf ihn abzufärben. So war der Revolutionär nicht mehr pausenlos nur mit der Revolution beschäftigt, sondern fand auch Gefallen an schillernder, berauschender Zerstreuung wie dem Masskrugstemmen im Hofbräuhaus oder dem Firlefanz des Faschings, den er Karneval nennt. Natürlich kamen - rezitiert von Clara Holzheimer - auch die Schwabinger Genossen und Bohemians zu Wort, Erich Mühsam beispielsweise, Ernst Toller oder auch der aus Berg diazustoßende Oskar Maria Graf. Vor allem letzterer betrachtete diesen politischen Aufbruch mit dem ihm eigenen wunderbaren Humor, der schon damals den Bierernst der Ideologie auf den Bierfilz hinunterbrechen konnte. 

Revolutionäre Last versus rebellische Lust? Letztes Gefecht versus erste Sahne? Es war ein Lied, das unter den großen Liedern der Arbeiterbewegung ein bisschen im Hintergrund steht, welches auf berührende Weise - an diesem Abend interpretiert von Rose Bihler Shah und Birgit Otter - zeigt, dass es im Kampf um ein besseres Leben um beides zu gehen hat: um Existenzsicherung und um Schönheit. „Brot und Rosen“, heißt dieses Lied, basierend auf einer Rede der New Yorker Gewerkschafterin Rose Schneiderman aus dem Jahr 1911: „und wenn ein Leben mehr ist/als nur Arbeit, Schweiß und Bauch/wollen wir mehr - gebt uns Brot/doch gebt die Rosen auch.“

Sabine Zaplin, 26.09.2018


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Mi, 26.09.2018 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.