Nach(t)kritik
Whisky und Spiele
Veranstaltung: Metropoltheater München: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" von Joachim MeyerhoffWie wird man zu dem Menschen, der man ist? Der Blick auf die eigene Herkunftsgeschichte hat an Bedeutung zugenommen, die wachsenden Stapel mit autobiographischen Büchern in den Buchhandlungen geben ein deutliches Zeugnis davon ab. Augenscheinlich herrscht in der Kunst ein Hunger nach Realität. Der amerikanische Schriftsteller David Schildes formulierte es in seinem 2011 erstmals auf Deutsch erschienenen Manifest „Reality Hunger“ so: „Biografie und Autobiografie sind im Augenblick der Lebenssaft der Kunst.“
Vor diesem Hintergrund ist der Bucherfolg der vierteiligen Autofiktion des Schauspielers Joachim Meyerhoff (Jahrgang 1967), die bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel „Alle Toten fliegen hoch“ erschienen ist, durchaus erklärlich.
Ausschlaggebend ist aber gewiss auch der wunderbar lakonische Humor, mit dem Meyerhoff auf seinen Lebensweg schaut. Dies ist der Grundton, den die Inszenierung Gil Mehmerts vom dritten, erfolgreichsten Teil der Tetralogie, „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ anschlägt, mit der das Metropoltheater in zwei Vorstellungen beim Gautinger theaterforum gastierte.
Mehmert hat aus der Buchvorlage eine Bühnenerzählung gemacht, die aus dem Kopf des jungen Schauspielschülers Joachim herauswächst und szenische Formen annimmt. James Newton, der den Joachim spielt, gestaltet die Welt des jungen Mannes, der seine Ausbildung an der Schauspielschule beginnt und aus Kostengründen bei seinen Großeltern einzieht, mit der ganzen Kraft des „Beginners“, der hinauszieht und die Welt auf sich einströmen lässt. Mal ist er der verwirrte Schauspielschüler, der eher aus Zufall die Aufnahmeprüfung besteht und sich in einer Welt wiederfindet, die bis in seine seelischen Tiefen hinein ihn voll und ganz haben will, alles von ihm wissen will und der er sich in einer Weise offenbaren soll, die ihm zunächst noch fremd ist. Mal ist er dann der geliebte Enkel, der „Lieberling“, der mit der leicht exzentrischen Großmutter - die selber Schauspielerin war - über zu lernende Rollen redet, mit dem akademisch gebildeten Großvater gepflegt diskutiert und mit beiden deren in Jahrzehnten eingeübten Rituale zelebriert, zu denen unter anderem der abendliche Sechs-Uhr-Whisky gehört.
Diese Szenen mit den Großeltern - Lucca Züchner als exaltierte, auf eine sehr kontrollierte Art dem Enkel äußerst zugetan, und Thorsten Krohn als feingliedriger, edler Greis - sind die eine Säule des Abends. Hier entsteht eine Welt, in der Vergangenheit präsent ist und in der Beziehung zum Enkel die Distanz zur Gegenwart offenbar wird; das ist tragisch und komisch zugleich, Insbesondere im Zelebrieren der alkoholgeprägten Tagesstruktur steckt sehr viel Komik, welche die drei Schauspieler auch gern und gekonnt auskosten.
Aber auch die Szenen in der Schauspielschule bieten viel Anlass für Situationskomik und Spiellust. Hier setzen Regisseur und Ensemble noch einmal mehr auf bis ins Groteske umrissene Stereotype, beispielsweise die von Luiza Monteiro als Kunststar angelegte Regisseurin oder der von Oliver Mirwaldt sehr hip ausgestattete Schauspiellehrer. Inez Hollinger und Aydin Aydin spielen, gemeinsam mit Monteiro und Mirwaldt, die jungen Schauspielschüler dagegen sehr naturalistisch und so, wie sie es womöglich selber während ihrer Ausbildungszeit erlebt haben.
Eine eigene Stimme unter dem ganzen Abend entwickelt Stefan Noelle mit einer Live-Percussion, die innere Bewegung noch einmal ganz anders hörbar macht und den Weg Joachims bis hin zur (Bühnen-)Reife akustisch ebnet. So war es insgesamt ein unterhaltsamer und besonderer Abend, der einmal mehr das Thema „Theater auf dem Theater“ aufgriff und dem Gautinger Publikum diese von ihm doch sehr geliebte Welt wieder ein Stück begreifbarer machen konnte.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.