Nach(t)kritik
Wilde Boygroup
Veranstaltung: Vision String Quartet: Bloch, Brahms und Stücke aus dem Album "Spectrum" (Jazz & Pop)Von subtiler, sanfter Streicher-Andacht in Ernest Blochs Recueillement, seinem Prélude für Streichquartett aus dem Jahr 1925, über Brahms zur Nightclub-Session mit Folk, Pop und Jazz: Das Vision String Quartet gibt sich mit Johann Wolfgang Goethes trockener Definition des Streichquartetts nicht zufrieden. Denn der charakterisierte es bekanntlich so: „Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“
Von dieser akademisch-nüchternen Haltung findet sich beim Vision String Quartet kaum etwas. Denn zehn Jahre nach ihrer Gründung verströmen die beiden Geiger Florian Willeitner und Daniel Stoll, der Bratscher Sander Stuart und Leonard Disselhorst am Cello immer noch den Charme von vier Jungs, die beim Musizieren Spaß haben und andere daran teilhaben lassen wollen. Berührungsängste kennen sie dabei keine und auch keine Furcht zu scheitern. Das haben mit dem ersten Quartett op. 51/1 in c-Moll von Johannes Brahms schon renommierte Quartette geschafft. Denn der dichte Satz, das fast orchestrale Gewebe und eine immer mal wieder aufscheinende Schwermut können schnell dick und ungenießbar werden. Nicht so beim Vision String Quartet, das nie den intensiven Zugriff scheut und dabei der Versuchung widersteht, künstlich schlank zu spielen. Stattdessen: sehnig gespannte Expression!
Das funktioniert freilich nur, weil die vier ihren Brahms gut kennen, mit großer Intonationsgenauigkeit musizieren und in jeder Phrase genau wissen, was der andere tut. Da alle auswendig und – bis auf den Cellisten – im Stehen spielen, wird eine große Freiheit, Offenheit und beste Kommunikation nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erzwungen. Wild vibrierend beginnen die vier, doch immer wieder darf sich, vor allem im langsamen Satz, einer Romanze, auch Lyrisches Bahn brechen, bis in der Stretta des Finales das Tempo so rasch gesteigert wird, dass man befürchtet: Jetzt fliegen sie gleich aus der Kurve. Tun sie aber nicht und ihr burschikoses Grinsen sagt: „Gell, das habt ihr jetzt nicht erwartet!“
Nach der Pause suggerieren elektronische Verstärkung, Lichtwechsel und rot oder dunkelblau illuminierte Samtvorhänge endgültig: wie sind in einem Nachtclub. Doch erst einmal klingen Alternative endings und Willi’s farewell nach feinen Folk mit skandinavischem Touch, bevor es mit The shoemaker und Travellers jazziger wird und der launig moderierende Bratscher eine kleine Breitseite gegen die Deutsche Bahn schießt, die ihnen sonst viel Zeit schenkt zum Nachdenken und Arbeiten, aber diesmal einen sicheren und pünktlichen Weg nach Gauting bescherte. Das wähnten sie im Glatteis-Chaos und befürchteten vor nur drei Leuten spielen zu müssen, weil sich keiner aus dem Haus traut. Dafür gibt's erleichterten Beifall des gut besetzten Auditoriums!
Die Stimmung wird daraufhin immer ausgelassener und die rhythmisch prägnanten Stücke (Liquorice, Copenhagen) voll mit gezupften und geschlagenen Klängen (dabei Geige und Bratsche manchmal wie eine Gitarre gespielt) geben sich immer frecher und poppiger, aufgepeppt schon mal mit Stroboskop-Licht, bis die erste Zugabe (Samba) nicht nur als fein gefühlige Musik daherkommt, sondern auch Köpfe und Hüften leicht ironisch wackeln lässt. Das sieht bei vier gestandenen jungen Männern irgendwie sehr lustig und wunderbar kindisch aus.
Nach der zweiten, fetzigeren Zugabe hatte das begeisterte Publikum mit acht von elf Nummern fast ihre ganze CD „Spectrum“ erlebt. Doch wenn es nach dem immer wieder heftig aufbrandenden Beifall gegangen wäre, hätte das Vision String Quartet noch mindestens eine halbe Stunde weiterspielen dürfen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.