Presse
Schrecklich normal
Wie sieht der Alltag im Krieg aus? Eine Ausstellung im Gautinger Kulturhaus Bosco gibt in 14 Fotografien Einblicke in das Leben der Menschen in der Ukraine.
„Ich bin ok.“ Wenn Oleksandra Bienert diese Nachricht bekommt, dann weiß sie, dass ihre Mutter in Kiew wieder einen Raketenangriff überlebt hat. Weit über eine Million Menschen aus der Ukraine leben mittlerweile in Deutschland. Die meisten von ihnen haben Verwandte und Freunde in der Heimat zurückgelassen. „Wir leben alle unter sehr großer Anspannung und wissen, dass wir in jeder Sekunde unsere Eltern oder Freunde verlieren können“, sagt Bienert. Sie hat mit ihrer Mutter die Vereinbarung getroffen, nach jedem Angriff ein kurzes Überlebenszeichen zu schicken. Und sie hat die Wanderausstellung „Alltag im Krieg“ kuratiert, die als Kooperation zwischen Amnesty International und der Berliner Fotoagentur Ostkreuz entstand – und jetzt Station im Gautinger Bosco macht.
Oleksandra Bienert, 1983 in Czernowitz geboren, lebt seit 2005 in Berlin. Sie ist Menschenrechtsaktivistin und Fotografin, studierte Europäische Ethnologie und Public History und arbeitet derzeit an einer Dissertation über weibliche Intellektuelle aus der Ukraine im Berlin der Zwischenkriegszeit. Ihr Einsatz für die politische Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte und insbesondere für Menschen aus der Ukraine wurde unter anderem mit dem Verdienstorden des Landes Berlin und der Pankower Bezirksmedaille gewürdigt.
Auf Einladung der Gruppe Würmtal von Amnesty International kam sie am vergangenen Dienstagabend zur Ausstellungseröffnung nach Gauting – und hatte auch gleich einen Vorschlag mit im Gepäck: eine Städtepartnerschaft zwischen der Würmtalgemeinde und einer ähnlich strukturierten Gemeinde bei Odessa im Süden der Ukraine. Sie habe bereits eine Partnerschaft zwischen Pankow und der ukrainischen Stadt Riwne angestoßen, um direkt zwischen den Menschen Brücken zu schlagen, berichtete sie.
Zunächst aber sprechen die vierzehn Bilder, die Bienert für die Wanderausstellung ausgewählt hat, zu den Menschen in Gauting. Die Fotografen der Ausstellung, Johanna-Maria Fritz, Emile Ducke und Sebastian Wells, sind in der renommierten Berliner Fotoagentur Ostkreuz organisiert. Ergänzt werden ihre Fotos durch Fakten, die Amnesty International in den vergangenen Jahren vor Ort recherchiert hat, darunter schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Auf den ausgestellten Fotografien sind aber keine Gewaltszenen, keine Panzer und auch keine verwüsteten Städte zu sehen. Sie bilden vielmehr das Leben von Menschen ab, die unter der ständigen Bedrohung versuchen, so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten.
Da kniet eine Frau vor dem Altar in der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale in Lwiw, dessen Heiligenfiguren zum Schutz vor Zerstörung dick verhüllt sind. Eine andere hat den Kaffeetisch im Luftschutzkeller gedeckt und einen Strauß Pfingstrosen aus dem eigenen Garten in die Mitte gestellt. Die Front, so heißt es im erläuternden Text zu diesem Bild, ist nur wenige Kilometer von ihrem Dorf nahe Charkiw entfernt. Da sind die beiden Kinder, die auf einem Spielplatz im Zentrum von Cherson herumtollen, der zum Schutz vor Splittern von einem hohen Metallzaun umgeben ist. Da ist der Militärarzt, der vor dem Eingang zur Notaufnahme kurz seine Freundin in den Arm schließt. Und da sind die drei jungen Menschen, die in einem Café Schach spielen und sich unterhalten. Direkt hinter ihnen an der Wand sind Sandsäcke zu hohen Türmen gestapelt: Sie sollen die Wucht von möglichen Explosionen verringern.
Oleksandra Bienert hat diese Bilder ausgewählt, um verschiedene Aspekte des Krieges und seiner Auswirkungen auf die Menschen zu verdeutlichen: Sie will auf das Schicksal von älteren Frauen aufmerksam machen, die oftmals keinen Zugang zu Informationen und Hilfsgütern haben. Sie will die besondere Vulnerabilität von Kindern, die inmitten des Krieges aufwachsen, zeigen und die extreme Belastung von Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten.
Sie kann die Bilder mit Zahlen untermauern, spricht von Hunderten von Angriffen auf Krankenhäuser, von mehr als hundert zerstörten Museen, von bombardierten Philharmonien und mehr als 700 ausgebrannten Bibliotheken. Vor allem aber will sie zeigen: „Die Menschen wollen leben. Und sie wollen sich nicht einschüchtern lassen.“