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Presse

 

Welt ohne Emotionen

Erschienen in:   Süddeutsche Zeitung - Starnberg

Rufus Beck präsentiert im Gautinger Bosco den Roman des Briten Mark Haddon „Die sonderbare Welt des Christopher Boone“: Mit multimedialer Unterstützung offenbart er die Gedankengänge eines Autisten im Ausnahmezustand, der den Mord an einem Pudel klärt.

Gauting – Supergute Tage sind die, an deren Morgen der 15-jährige Christopher Boone hintereinander fünf rote Autos sieht. Rot mag er, gelb nicht. Es reichen schon vier gelbe Autos, damit es ein „schwarzer Tag“ wird. Als seine 38-jährige Mutter Judy einen Herzinfarkt erlitten haben soll, obwohl sie sich vollwertig ernährt und nicht zur Risikogruppe gezählt hatte, schickt er ihr eine selbst gemachte Gute-Besserung-Karte mit neun roten Autos. Sie stirbt dennoch. Vermeintlich. Denn eigentlich ging sie nur weg, weil sie an Christopher zerbrochen war und darunter litt, dass sein Vater Ed mit ihm besser zurechtkam.

Leicht hat es keiner mit Christopher, denn er ist ein besonderer Junge und lebt in einer Welt ohne Emotionen. Er ist Autist der Sonderform Asperger-Syndrom – zumindest im Roman des Briten Mark Haddon „Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“ (Originaltitel: „The Curious Incident of the Dog in the Nighttime“). Dass Rufus Beck – am Samstag zu Gast des Gautinger Bosco – nicht einfach nur daraus las, sondern eine multimediale Collage daraus machte, war sicher nicht nur aus Lust und Laune geschehen. Es ging vielmehr darum, auch das rüberzubringen, was zwischen den Zeilen stand: In die Gedanken- und Wahrnehmungswelt eines Autisten vorzudringen, ist ein höchst komplexes Unterfangen und nicht allein in Worte zu fassen.

Deshalb war es vermutlich wohl eher ein Irrtum, den Roman auch mit Jugendbuchpreisen auszuzeichnen. Durchaus: Konsequente, stets der Wahrheit verpflichtete Logik ohne Kompromisse kann schnell komisch wirken und der Fall des ermordeten Pudels Wellington einen Kinderkrimi vorgaukeln. Aber darum ging es hier nur peripher: Das Bild des von einer Mistgabel durchbohrten Wellington nutzte Haddon gleich zu Beginn, um die Lesenden auf die nüchtern analysierende Betrachtungsweise eines Autisten zu eichen. Und Rufus Beck tat gut daran, hierbei kein Entsetzen in die Stimme zu legen, denn Christophers Sympathie für Hunde und sein Trauern sind keine Emotionen im üblichen Sinne.

Gerade das war für den Autor ein Spagat: Die gängige Ausdrucksweise zu verwenden, ihr dennoch andere Bedeutungen zu hinterlegen. Der deutsch-iranische Komponist, Sounddesigner und Filmproduzent Parviz Mir-Ali erinnerte bei jedem Kapitelwechsel daran, dass in Christophers Hirnwindungen ganz sonderbare Dinge spuken: Er setzte auf animierte Binärcodes, Zahlenreihen, abstrakte Gebilde oder schematische Zeichnungen, die mit bestimmten Instrumenten und Klangfarben mit einer hörbaren Systematik in Verbindung standen.

Da er Hunde mag, will Christopher wissen, wer Wellington umgebracht hat, und geht der Sache nach: Seine Recherchen hält er schriftlich fest, denn es soll ein Kriminalroman daraus werden. Die Kapitelnummerierung mit Primzahlen der mit einer mathematischen Inselbegabung ausgestatteten Romanfigur hat auch Haddon für seinen Roman übernommen. Zum Verständnis birgt dies allerdings allenfalls die Erkenntnis, dass sich diesbezüglich beim Nichtautisten keinerlei Befriedigung oder sonstige Emotionen einstellen. Ganz im Gegenteil: Es suggerierte Lücken im Text. Christopher muss mit vielen Unwägbarkeiten zurechtkommen, denn die Wenigsten, die ihm begegnen, nehmen auf seine Besonderheit Rücksicht.

Anfassen kann zu Kontrollverlust führen, Lärm und sonstige Reizüberflutung lösen Panikattacken aus. Emojis mit Mimikmustern seiner Psychiaterin Siobhan helfen ihm, wie er Reaktionen der Menschen zu deuten hat und die ihm auch sonst die Welt der anderen erklärt. Siobhan stattet Christopher mit Eselsbrücken aus, damit eine Verbindung beider Welten möglich wird. Rufus Beck trat manchmal zur Seite, unterbrach den Vortrag; die Fortsetzung erschien schriftlich in der Projektion.

Und dann wurde sichtbar, was man gesprochen wohl kaum bemerkt hätte: Als Christopher etwa aufzählt, was ihm alles Probleme bereitet, werden die Sätze immer länger. Übereinander geschrieben formten ihre Enden eine exakte Diagonale. Die Projektionen halfen auch beim Verständnis der Lösungswege Christophers, wenn er etwa riesige Zahlen miteinander ad hoc multipliziert oder bei Rätseln Visualisierungen die Aufgabe überhaupt vorstellbar machen. Und schließlich wird auch der Kriminalfall gelöst: Der Vater hat nach einem Streit mit Eileen Shears auf ihren Pudel eingestochen. Aus Wut und Verzweiflung. Christopher nimmt es zur Kenntnis und will zur Mutter, deren Brief ihm der Vater aber vorenthielt.

Gibt es ein Happy End? Möglich. Aber Haddon zog es im 229. Kapitel vor, einen Traum Christophers zu schildern, den Beck treffend mit lyrischem Tonfall versah. Denn die menschenleere Traumwelt empfindet Christopher als Wohltat: endlich Stille im Kopf, endlich Frieden. Zum Glück war Christopher nicht im Bosco, die frenetischen Ovationen hätten ihm nicht gutgetan. Rufus Beck hingegen schon.

10.12.2024, Reinhard Palmer