„Ich nehme mir die Stücke und schaue, was damit passiert heute – in freier Interpretation. Ich spiele sie jedenfalls nicht so, wie sie komponiert wurden. Es ist ein bisschen wie Kochen, mit wechselnden Ingredienzen.“ Das selbstbewusste Konzept einer Frau von 28 Jahren: Die Pianistin Johanna Summer hat sich nicht weniger vorgenommen, als die klassische und neoklassische Klavierliteratur ordentlich gegen den Strich zu bürsten, deren prägenden Elemente noch etwas weiter zu denken und auszureizen – eine ganz persönliche Form der Genussverlängerung und Intensivierung, von Bach bis Grieg, von Beethoven bis Ligeti. Im bosco stellte Summer ihre bereits zweite Solo-Einspielung vor, mit dem trefflichen Titel „Resonanzen“ und durchaus passender Weise in der Jazz-Reihe des Hauses: Die gebürtige Plauenerin und Absolventin des Jazzklavierstudiums an der Musikhochschule Dresden hat sich nämlich längst auch als Gewinnerin des „Jungen Münchner Jazzpreises“ und des Solistenpreises des „Jungen Deutschen Jazzpreises“ einen Namen gemacht, sie war mehrfache Preisträgerin beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“, Mitglied im Bundesjazzorchester „Bujazzo“ und erzielte bereits bei ihrem Solo-Debütalbum „Schumann Kaleidoskop“, auf dem sie sich mit der Musik Robert Schumanns improvisatorisch auseinandersetzt, große Beachtung.
Summer kam also mit etlichen Vorschusslorbeeren nach Gauting, machte dann auch nicht viele Worte (bis auf die zitierten einleitenden) und ließ die Musik sprechen – in offenbar immer wieder neu erkundeten emotionalen Dialogen zu den Werken, die sie sich ausgesucht hatte: Es seien deshalb auch für sie selbst unwiederholbare, „nicht rekreierbare“ Konzerte, sagte Summer noch, denn sie wisse nicht, was dabei – mit ihr - passieren werde. Ersichtlich hat die Pianistin zu den erwählten Komponisten und ganz bestimmten Stücken eine ganz besondere Beziehung – und innerhalb dieser Stücke wiederum zu einzelnen Elementen: Das kann bei Maurice Ravel diese leicht taumelnde, trauerumflorte Melancholie sein (Prélude from le Tombeau de Couperin). Bei Alexander Scriabin (Prélude No.6 in B-moll, Op.11) die Faszination für manchmal kindliche Experimentierfreude oder die Begeisterung für György Ligetis (Musica Ricercata No.8) unberechenbare Aufsässigkeit: Summer geht hier körperlich voll mit, genießt die volle Breite der Klaviertastatur, scheint noch einen Schuss Extra-Dynamik obendrauf packen zu wollen.
Ein Johann Sebastian Bach liefert inmitten all dieser Werk- und Komponisten-Patenschaften mit der Sinfonie 11 in G-moll, BMW 796 geradezu den soliden Grundstein: Summer verneigt sich vor den Granden, zeigt ihnen aber auch, wie es auf ihren Schultern stehend in interpretatorischer Konsequenz weiter gehen könnte, bei allem Respekt bis hin zu frech „swingenden“ Schlenkern. Und sie hat wohl auch ihre erklärten „Lieblinge“, zumindest auf der „Resonanzen“-CD: etwa den eher selten zu Gehör gebrachten Federico Mompou und dessen Cuna from Impresiones intimas. Spannende Beispiele einer gefühlsmäßigen Vielschichtigkeit, die für die Künstlerin zur bravöurös gemeisterten technischen Herausforderung werden – Summer scheut weder den wuchtigen Anschlag, der jedesmal wie ein Ausrufezeichen wirkt, noch scheinen ihr zarteste Tänzeleien an den Rändern der Klaviatur fremd. Es sind in der Tat temperamentvolle Dialoge, die sich da vor den Augen des Publikums abspielen, mit körperlicher Hinwendung zum Instrument, als wären es dringliche Fragen an die aufgerufenen Stücke. Und es gibt auch mal einen erleichterten Rückstoß, als habe die Künstlerin an diesem Abend mal wieder eine ganz besondere, erschöpfende Antwort ihres Gegenübers bekommen.
Johanna Summers Ansatz, klassische Musikvorlagen nicht nur neu zu deuten, sondern regelrecht „fortzuspinnen“, eben nicht immer nur den Kanon nachzubeten oder einer vermeintlichen Ideal-Interpretation nahe kommen zu wollen, ist sehr begrüßenswert – die großen Meister wären vermutlich stolz auf sie (abgesehen vielleicht von Beethoven). Und Summers sächsischer Landsmann Robert Schumann hätte vielleicht sogar gelächelt, wenn er Von fremden Ländern und Menschen (aus den Kinderszenen) als Zugabe im bosco erlebt hätte.