Die Welt ist aus den Fugen. Die Uhr hängt schief an der Wand, in der Küche scheppern die Töpfe, und die lästige Fliege, die gar nicht weichen wollte, ist zur Komplizin geworden. Wie soll man weiterleben, wenn der Lebenspartner zu Asche verbrannt und in alle Winde verstreut ist? Wenn es Zeit ist für die tägliche Partie Karten, und doch niemand da, der so wunderbar theatralisch verlieren kann? Wenn der Sohn auf die herkömmlichen Regeln pocht und die Enkelin so sichtbar keine Lust hat zum Besuch? Der alte Mann versucht so etwas wie einen Alltag zu finden, als seine Frau gestorben ist. Macht erst mal so weiter wie bisher. Hält sich allein fest an den schönen gemeinsamen Momenten und findet niemanden, der diese mit ihm teilt. Findet sich bald in der Rolle desjenigen, der betreut und fremdbestimmt und von außen gelebt wird. Bis einmal eine da ist, die ähnlich fühlt wie er. Die seine Freude versteht und sich genauso freuen kann. Bis dann der Sohn darin eine Gefahr sieht und seinem Vater den Umgang verbietet.
„Solitudes“, heißt das Maskenspiel des baskischen Kulunka Teatro, das anknüpft an das letzte Gastspiel des Ensembles im bosco, „André und Dorine“. Wieder geht es um den letzten Lebensabschnitt: das Alter. Während „André und Dorine“ das Thema Demenz erzählen und mit den besonderen Mitteln dieses poetischen Maskentheaters diese Problematik darstellen, geht es in „Solitudes“ um die Einsamkeit jener, denen das soziale Umfeld wegstirbt. Wenn niemand mehr da ist, der die Erinnerungen, Gewohnheiten und Geschichten des eigenen Lebens teilt, dann bleibt man unverstanden zurück und findet sich in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Wieder einmal gelingt es den Theatermachern von Kulunka, ganz besondere, so noch nicht gesehen Bilder zu finden für die Themen, die „Solitudes“ aufgreift. Da ist an erster Stelle das Spiel mit diesen so besonderen, gewisse Seelenzustände in der plastisch gestalteten festen Mimik wiederspiegelnden Masken. Der alte Mann mit seinem so unendlich traurigen, zahnlos wirkenden Mund und den tiefen Furchen in der Stirn, der diese ganze Hilflosigkeit auch in der Körperhaltung aufgreift. Der geschäftige Sohn, dessen Überforderung sowohl in den aufgerissenen Augen als auch in den hängenden Schultern steckt. Die schlurfige Enkelin mit dem Smartphone-Gesicht. Sie alle stehen für ihre ganz eigenen Einsamkeiten, die ihnen in die Maskenmimik geschrieben ist.
Jeder in dieser Geschichte ist durch die Konfrontation mit dem Alter und dem mit diesem einhergehenden Zumutungen zurückgeworfen auf sich selbst. Genau daraus entsteht Solitude, Einsamkeit. Zuneigung, Liebe gar scheinen nur noch in käuflicher Form zu existieren - als Nebenschauplatz wird hier der Straßenstrich mit seinen tragischen Existenzen skizziert. Die junge Hure, auf die der traurige alte Witwer trifft, ist tatsächlich die einzige, die seine Fixiertheit auf das scheinbar Nebensächliche begreift und sich auf sein Spiel einlässt. Die Blindheit des Sohnes jedoch zerstört diesen winzigen Moment von Verstandensein.
Zwei Welten existieren nebeneinander, wenn Alter auf Gegenwart trifft. Fast ist es so, als ob zwei verschiedene Planeten umeinander kreisen. Es gibt scheinbar keine Berührungen. „Wenn es ihr wie eine andere Welt vorkam“, schreibt Stewart O´Nan in seinem wunderbaren Roman über das Alter, „Emily, allein“, „dann deshalb, weil es so war.“ Der einzige Weg, von einer Welt in die andere zu reisen, ist jener über die Poesie. Das Spiel des Kulunka Teatro erzählt, wo genau dieser Weg liegt.