Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Nur in diesem, andere Verfassungen sehen einen gesetzlich verankerten Würdeanspruch nicht vor. Eine Konsequenz aufgrund der entsetzlichen Nivelierung menschlicher Würde in Auschwitz. Wie alt aber ist der Begriff der Würde? Wie hat er sich entwickelt? Und welche Beziehung haben wir heute zu diesem Wort? Was verbinden wir damit? Haben wir überhaupt das Gefühl, eine Würde zu besitzen?
Diese Gedanken stehen am Anfang des Philosophie-Cafés am Sonntagabend im bosco, dem ersten in der gerade beginnenden neuen Spielzeit. Joachim Kunstmann lädt, wie man das von ihm gewohnt ist, zum Gespräch, und mit großer Begeisterung nehmen die Gäste diese Einladung an, steigen gleich hochengagiert ein ins Ad-hoc-Philosophieren, so dass ein roter Faden sich nicht immer entwickeln kann – und auch nicht unbedingt entwickeln soll. Schließlich ist die Weisheit ein Kind des Gesprächs, und die Freunde derselben sind den Austausch gewohnt. Fragen, ob Würde etwas mit Anstand zu tun habe oder ob es einen Unterschied zwischen der Amtswürde und einer allen gleichermaßen zustehenden Würde gebe, standen ebenso im Raum wie Anmerkungen zu Reiseerfahrungen oder dem eigenen Einschlafen ohne schlechtes Gewissen. Auch wurde dem Begriff der Würde eine gewisse Altertümlichkeit attestiert, ein zumindest begrifflich nicht mehr zeitgemäßes Dasein. So ging es hin und wieder zurück, alles mit größtmöglicher Würde selbstverständlich.
Dennoch konnte Professor Kunstmann einen kleinen philosophiegeschichtlichen Bogen schlagen von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart und dabei die Entwicklung des Begriffs darlegen. So galt in der Antike die Würde nicht als eine angeborene Qualität, sondern konnte nur über gewisse Führungsqualitäten erworben werden. Als würdevoll galt der freie vermögende Mann mit edler Gesinnung. Darüber hinaus gab es auch eine sittliche Würde, worunter die vernünftige Beherrschung der Leidenschaften verstanden wurde. Schließlich galten auch alte Männer aufgrund ihrer Lebenserfahrung und der damit einhergehenden Weisheit als würdevoll.
Im Mittelalter trat dann die Amtswürde in den Vordergrund. Allen voran waren Papst und Kaiser Würdenträger, dann folgten weitere Vertreter von Klerus und Adel. Das mittelalterliche Verständnis von menschlicher Würde war sehr geprägt von der dogmatischen Bibelauslegung, das einen Zusammenhang zwischen dem Sündenfall der Schöpfungsgeschichte und dem Trachten nach würdevollem Leben sah: durch die Erbsünde ist dem Menschen die Würde per se abhanden gekommen, seine Aufgabe ist es, durch ein sittsames Leben diese am Ende desselben zurückzugewinnen. Erst Luther und die Reformation stellen diese Auffassung wieder in Frage.
Mit der beginnenden Aufklärung tritt Immanuel Kant mit einem neuen Würdebegriff auf die Bühne der Philosophiegeschichte und spricht eben diese Würde einem jeden Menschen als sittliches Wesen zu – das sittliche Verhalten wird zur Voraussetzung von Würde. Dem Kantschen von Vernunft geprägten Denken stellt der Schriftsteller Friedrich Schiller einen Gegenentwurf zur Seite, der die Leidenschaft und Sinnlichkeit mit einbezieht. Schillers Vorstellung von „Anmut und Würde“ sieht neben dem vernunftgeprägten Handeln eine Orientierung an der „schönen Seele“ vor – ein Konzept, das heute mit dem Begriff der Empathie beschrieben werden kann.
Gerade der Empathiegedanke ist heute, im Zeitalter des Kalküls und zweckorientierten Handelns von großer Bedeutung. Wie anders wäre beispielsweise ein so großes ehrenamtliches Engagement im Zusammenhang mit dem Zustrom Tausender Flüchtlinge zu erklären? Eine Gesellschaft, die (noch) mehrheitlich Flüchtlinge willkommen heißt, hat eine Vorstellung von Würde, die über die juristische Verankerung hinaus geht. Wenn dies (der Kalauer sei erlaubt) nur möglichst auch so bleiben würde!