„Hoffnung trotz allem“: Einen tiefen Einblick in jüdisches Familien- Leben in Gauting gab Estera Silber, Jahrgang 1950. Parallel zur laufenden Ausstellung im bosco erzählte die erstgeborene Tochter des Taxiunternehmers Rafael Katz von ihrer Kindheit und Jugend in der Villenkolonie. Ihr Vater Rafael Katz kam nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau 1945 als schwerkranker Tuberkulose-Patient ins DP-Hospital Gauting – und lernte hier seine spätere Frau kennen.
Trotz Traumfrühlingswetter war dieses „Tee“-Gespräch hervorragend besucht: Im Publikum saßen Gautinger, die den legendären, 2006 verstorbenen Taxiunternehmer mit Lederschirmmütze noch persönlich kennengelernt hatten. Zum Beispiel Alt-Bürgermeister Ekkehard Knobloch und seine Nachfolgerin Brigitte Servatius. Aber auch Dr. Michael Hassler, der Sohn des Chef-Arztes des Gautinger Tuberkulosekrankenhauses für zwangsverschleppte Menschen, sogenannte „Displaced Persons.“
In alter Tradition hatte Estera Silber, Jahrgang 1950, zum Teegespräch mit Kulturjournalistin Sabine Zaplin, eine Porzellankanne mitgebracht – ein Geschenk von Maria von Taube, denn: „Ich bin im Haus Gartenpromenade 49 aufgewachsen“, direkt neben der Familie von Taube. Ihr Vater Rafael Katz (1918-2006), nach dem die Park-and-Ride-Straße am Gautinger Bahnhof benannt ist, hatte den Schriftsteller Otto von Taube in der Nachkriegszeit oft zu Lesungen chauffiert, erzählt Estera Silber.
Unten im boschetto hat Gemeinde-Archivarin Regine Hilpert-Greger gerade eine Ausstellung mit Erinnerungsstücken aus dem Nachlass von Rafael Katz zusammen getragen. Dort ist unter anderem sein weiß-blau gestreifter Mantel zu sehen. Ihr Vater trug das Kleidungsstück bei seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau am Kriegsende 1945, wirft Estera Silber den Blick zurück. „Er kam sehr krank mit Tuberkulose aus dem Lager – und musste im Gautinger DP -Hospital erst einmal behandelt werden.“
Hier begegnete der jüngste, verschleppte Sohn aus einer armen Rabbiner-Familie in Rumänien erstmals „unserer Mutter“: Bronia Katz, geborene Lewkowicz, hatte das KZ Auschwitz und das Ghetto Lodz überlebt.
„1949 haben meine Eltern in Gauting geheiratet“, erzählt die Erstgeborene von drei Kindern.
Denn die Auswanderungspläne ihres Vaters nach Israel und in die USA waren gescheitert. Die Amerikaner nahmen Kranke mit ansteckender Tuberkulose grundsätzlich nicht auf, so die Tochter.
„Bleib` in Gauting: Da ist eine gute Luft“, hatte der Gautinger Klink-Arzt Dr. Hans Hassler Rafael Katz damals empfohlen. Und ihr Vater gründete ein Taxiunternehmen – zunächst ohne Führerschein.
„Bei dir steig` I ned ein“: In urigem Oberbayerisch erinnert sich die im Gauting der 1950- und 1960er-Jahre aufgewachsene Estera Silber an Kunden mit Vorurteilen. Die störten sich nicht etwa an der jüdischen Religion des Rabbiner-Sohnes, sondern am Zigarren- und Knoblauch-Geruch in seinem Mercedes-Taxi.
In der Familie Katz wurden beide Religionen gelebt: Zu hohen Feiertagen wie dem Versöhnungsfest Jom Kippur „übernachteten wir im Hotel des jüdischen Zentrums an der Reichenbachstraße in München.“ Und zum Sabbat entzündete ihr streng gläubiger Vater stets eine Kerze für die Toten auf dem Jüdischen Friedhof Gauting. Doch auch die christlichen Feste wie Weihnachten und Ostern wurden gefeiert.
Estera und ihre jüngere Schwester Rosa wurden hier im katholischen Kindergarten von Schwester Berengaria erzogen.
Nur den „Shtetl“, den ihr Vater neben dem eigenen Haus an der Gartenpromenade in der vornehmen Villenkolonie aufbaute, stieß nicht nur auf Begeisterung. Die Familie Katz hielt dort in den 1960er-Jahren Ponys, Pferde und Ziegen.
„Wir waren gut integriert“, sagt die attraktive Bewegungspädagogin und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder. Ihr Bruder habe in Unterbrunn begeistert Fußball gespielt. Doch als ihr Vater hörte, dass ein Kind seine Tochter fragte: „Warum seid Ihr noch hier – wurden nicht alle Juden vergast?“, ließ Rafael Katz das „nicht auf sich sitzen.“ Die verantwortlichen Eltern mussten sich entschuldigen.
Als 14Jährige wurde Estera Katz Babysitter bei der Gautinger Familie Hess: Bettina und Catherina Hess sind Kinder der NS-Widerstandskämpferin Karin Friedrich von der „Weißen Rose.“ Und hier schließt sich der Kreis: Die erst 2015 hochbetagt verstorbene Gautinger Journalistin Karin Friedrich wird in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Mit den Töchtern Bettina und Catherina Friedrich, die sie in den 1960er-Jahren hütete, ist Estera Silber bis heute befreundet.
Über das erlebte Grauen in den deutschen Konzentrationslagern haben die Eltern mit ihren Kindern gesprochen: „Meine Mutter, die klein und zierlich war, musste im Munitionslager arbeiten – und hat in Auschwitz eine Schwester verloren“, berichtet Estera Silber. Doch Bronia Katz, die Ghetto Lodz und Ausschwitz überlebte, war zeitlebens „sehr ängstlich.“ Und ihr Vater habe „oft in der Nacht geschrien.“ Der Überlebende der Konzentrationslager Flossenbürg, Hersbruck und Dachau „wusste nie, ob er aus Lust erschossen wird“ – und wunderte sich, „was ein Mensch alles aushalten kann.“ Seinen Kindern hat Rafael Katz auch sein Bettgestell in der heutigen Gedenkstätte Dachau gezeigt. Er habe ihnen unter anderem von einem SS-Wachmann erzählt, der ihm mutig ein Stück Brot zugeworfen hatte – und damit sein eigenes Leben gefährdete.
„Mein Vater war ein echter Gautinger“, betont die nach wie vor aktive Bewegungspädagogin Estera Silber, die in München und Gauting wohnt. Denn hier am Ort hatte er die Chance, eine Existenz aufzubauen: „Er hat das nie bereut.“ Friedlich sei er am Morgen des 6. August 2006 eingeschlafen – „als wäre seine Seele im Zimmer geblieben.“
„Ihr Vater hatte eine gewaltige Portion Optimismus“, resümiert Professor Walter Fürnrohr, Historiker und Co-Autor der Dokumentation „Überleben und Neubeginn. DP-Hospital Gauting ab 1945.“
Und der Unterbrunner Hermann Geiger wirft mit einer köstlichen Anekdote den Blick zurück:
„In den 1980er-Jahren kam Ihr Vater mit seinem Taxi zu uns auf den Hof“: Auf der Rückbank hatte Rafael Katz zwei Ziegen mit stinkenden Kot-Knödeln. Die wurden vom Geigerschen Bock gedeckt. Und siehe da: „Danach gab`s 100 junge Unterbrunner Zicklein in Gauting“ – an der feinen Adresse Gartenpromenade 49, mitten in der Villenkolonie. „Aber so war er halt“, erinnert sich Geiger amüsiert an den unvergessenen Taxiunternehmer.